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Warum die Wahl in Taiwan nicht nur Sie überrascht hat

2014_Elections

Bei mir hatte Sean Lien schon gewonnen

Nun hat Taiwan also gewählt, und auch wenn es nur Lokalwahlen waren, haben sie das politische Gesicht des Landes verändert. Und zwar so:

Taiwan Election Results 2014 Before and After15* Städte und Kreise waren bislang blau, also von der Kuomintang (KMT) regiert. Künftig werden es noch sechs sein.

Verloren hat die KMT:

  • Taipeh (an einen Parteilosen)
  • Keelung
  • Taoyuan
  • Hsinchu (Stadt)
  • Taichung
  • Changhua
  • Chiayi (Stadt)
  • Penghu*
  • Kinmen (an einen Ex-KMT-Politiker)

(Alle Zahlen bei der Wahlkommission, klicken Sie sich durch das Menü links)

Einige dieser Ergebnisse waren erwartet worden, andere gelten als dicke Überraschung. Vor allem in Taoyuan galt die KMT eigentlich als unschlagbar. Und das bevölkerungsreiche Taichung, der große Preis in Zentraltaiwan, hat wohl gleich noch den südlichen Nachbarn Changhua mitgerissen.

Wie kam es dazu? Weiter unten finden Sie Links zu einigen Erklärungsversuchen.

(* Korrektur: Ursprünglich hatte ich versäumt, Penghu zu berücksichtigen.)

FAZ.NET und die Wahl in Taipeh

Am Vortag der Wahl konnte ich noch einen Bericht auf der Internetseite der FAZ veröffentlichen, in dem ich einigermaßen ausführlich einige historische und soziale Zusammenhänge benennen konnte, die in der Taiwan-Berichterstattung (auch meiner) oft zu kurz kommen:

Meinen Bericht hier lesen: Unter Chiang Kai-shek wäre das nicht passiert

Ein taiwanischer Student, der in Berlin lebt, hat diesen Text auf Chinesisch übersetzt und auf Facebook gestellt. Dort wurde er dann mehr als 1000-mal geteilt und weitergeteilt (die Zahl steht unter dem Artikel bei FAZ.NET) und hat so inzwischen wahrscheinlich mehr taiwanische Leser erreicht als Deutsche.

Das Internet ist großartig.

Mein Wahllokal war trügerisch

Ich habe gestern die Stimmabgabe und Auszählung in einem Wahllokal in Stadtteil Jingmei verfolgt. Fotografieren war dort verboten.

Es war die vierte große Wahl in Taiwan seit 2008, bei der ich dabei war und auch berichtet habe. Zum ersten Mal erlebte ich mit, wie die Wahlurne geöffnet wurde und die Stimmen gezählt wurden. Spannend, und man merkt, dass dieser Prozess so transparent wie möglich gestaltet ist. Es saßen mehrere Bürger als Beobachter dabei, einige wohl aus Privatinteresse, andere waren offenbar von Parteien geschickt und auch mit Regelwerken etc. ausgestattet worden.

In unserem Wahllokal, dem Klassenraum einer Schule, gab es keine größeren Meinungsverschiedenheiten. Nur einmal, als ein Wähler neben dem Stempel- auch einen Fingerabdruck hinterlassen hatte, und zwar im Feld eines anderen Kandidaten, wurde diskutiert. Der Stimmzettel wurde dann für ungültig erklärt.

Und so sah ich die Strichlisten wachsen. Was dann passierte, ist ein schönes Beispiel für verzerrte Wahrnehmung. In „meinem“ Wahllokal lagen Sean Lien von der KMT und der parteilose Ko Wen-je (hier mehr über die ungleichen Kandidaten) zunächst Kopf an Kopf. Als beide ungefähr 100 Stimmen hatten, zog Lien davon und gewann schließlich mit 442 Stimmen zu Kos 375.

Da saß ich also, und da ich die komplette Prozedur verfolgt und auch mein Smartphone nicht angerührt hatte, war mein Eindruck: Da haben die Meinungsumfragen wohl daneben gelegen, und mit ihnen so gut wie alle Journalisten, auch ich – die KMT kann Taipeh doch noch nach Hause schaukeln.

Dann verließ ich das Klassenzimmer und warf einen Blick in die Räume nebenan. In der Schule waren nämlich insgesamt fünf Wahllokale, und alle hatten mittlerweile die Auszählung abgeschlossen.

In allen anderen Räumen lag Ko vor Lien, mit 415:364, 442:390 usw. Plötzlich fiel auch mein neues Weltbild schon wieder in sich zusammen.

Erst als ich dann auf Twitter aktuelle Meldungen über die Zahlen aus der ganzen Stadt las, hatte ich wirklich einen Eindruck davon, wie die Wahl wohl ausgehen würde.

Verzerrte Wahrnehmungen: Haben wir alle

Was für ein schönes Beispiel dafür, was auf Englisch als bias bezeichnet wird: eine Verzerrung. Die eigene Voreinstellung, der Freundeskreis, Familie und Kollegen, der Medienkonsum – das alles sorgt dafür, dass wir alle uns unser ganz eigenes Bild von der Realität machen. Und das halten wir dann gern für repräsentativ.

Sind „die Taiwaner“, speziell „die Jungen“, nun eher regierungskritisch, oder denken sie vor allem an ihren Geldbeutel? Sind Sonderwirtschaftszonen wichtiger als Landenteignungen? Und was hat das zu bedeuten? Alles Fragen, die verschiedene Menschen aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen unterschiedlich beantworten. Und alle könnten mit Fug und Recht behaupten, sich mit Taiwan auszukennen.

Was heißt das für meine Arbeit als Journalist? Natürlich ergibt sich auch bei mir aufgrund meiner Beobachtungen und Erfahrungen ein Bild, das dann Grundlage meiner Berichte wird. Ich bilde mir gern ein, dass ich besonders viele Quellen zu Rate ziehe, mit besonders vielen Leuten aus verschiedenen Bereichen in Kontakt komme, und dass die Subjektivität dadurch ein Stück weit entzerrt wird.

Manchmal höre ich: „Ein Reporter hat objektiv zu berichten.“ Ja, wenn es so einfach wäre! Nach mehr als zehn Jahren Arbeit als Journalist bin ich mir ziemlich sicher: Wer behauptet, es gäbe eine rein objektive Berichterstattung, hat noch nie als Journalist gearbeitet – oder macht sich (und anderen) was vor.

Angefangen mit Satzbau, Wortwahl, Gewichtung stecken schon in jeder Zehn-Zeilen-Meldung hunderte völlig subjektive Entscheidungsprozesse, und jeder hat Einfluss darauf, wie der Beitrag von den Lesern aufgenommen wird und welche Effekte er erzielt.

Das zu verleugnen, ändert nichts. Oft sind es gerade vorgeblich objektive, betont nüchterne Agenturberichte, die schärfste Kritik und Manipulationsvorwürfe auf sich ziehen. Zu beobachten gerade in den Debatten zur Russland-Berichterstattung.

Was Journalisten können und auch sollten: Nach bestem Wissen und Gewissen berichten. Sich dabei ihrer Verantwortung bewusst sein. Und der Tatsache, dass eigene Eindrücke keine Fakten wiederspiegeln müssen – so wie meine Erlebnisse im Wahllokal sich als trügerisch herausstellten. Ich finde, das ist eine bessere Richtschnur als das vorgebliche Streben nach völliger „Objektivität“, die doch nur eine Schimäre sein kann.

(Am Rande bemerkt: Wenn ich an den Rückmeldungen merke, dass ich manchmal Leute an beiden Enden von Taiwans politischem Spektrum gleichermaßen irritiere, denke ich mir: Dann kann ich ja nicht ganz verkehrt liegen.)

Unbedingt lesen zur Wahl

Nun bin ich ganz schön weit vom Thema abgeschweift. Was ich eigentlich noch mitteilen wollte:

  • Der für Taiwan zuständige ARD-Radiokorrespondent in Tokio hat einen schönen Bericht über das Wahlergebnis abgeliefert (zum Nachlesen oder Anhören). Auch die Kommentare sind interessant.
  • Woran hat’s denn nun gelegen, das Ergebnis? Eine wissenschaftliche Erklärung: „I think that this was almost certainly an anti-KMT wave driven by dissatisfaction with the national government rather than a pro-DPP wave driven by widespread attraction to the DPP and its platform.“ 
  • Und eine völlig subjektive: „Don’t treat us alternately like ignorant peasants or idiot children. And listen to us. Public opinion means something – just because we elected you before doesn’t mean you’re the emperors of this country. Listen to us, or get the fuck out.“ 
  • Mein Radiobeitrag im Deutschlandfunk steht noch online.
  • In der taz wird am Montag der Chinakorrespondent über die Wahl berichten. In der SZ vom Montag steht ein Artikel von Kai Strittmatter.
  • Deutsche Blogs: Ludigel (auch über eine Begegnung mit Jason Hu, scheidender Taichung-Bürgermeister) und LuoYou: „Jetzt dürfen an vielen Stellen andere Politiker und Parteifreunde – oder sogar Familienmitglieder  an die Tröge, um sich am öffentlichen Eigentum, das die Allgemeinheit erarbeitet, zu bedienen oder sich vorteilhafte Gesetze und Möglichkeiten zu verschaffen.“
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Klaus Bardenhagen

Klaus Bardenhagen

Comments

2 Antworten

  1. Jetzt haben der Arzt aus Taipei, die korrupten Grünen und die aufmüpfigen Sonnenblumenkinder die Möglichkeit, zu zeigen, was sie drauf haben. Sehr wahrscheinlich wird wenig dabei herauskommen. Und bei der nächsten Wahl ist dann die alte Mutter KMT wieder da und kann wieder alles richten… Oder alles ist dann bereits komplett in den Graben gefahren.

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