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Warum es für die Todesstrafe in Taiwan keine einfachen Antworten gibt

Diagramm: Morde und Hinrichtungen Taiwan

Hinrichten oder nicht? Taiwan diskutiert

Todesstrafe und Morde, Bestrafungen und Hinrichtungen – diesen Monat wurde darüber so viel diskutiert wie selten. Es geht um drei Fälle, die sehr unterschiedlich ausgegangen sind. 

Dass Taiwan nach wie vor Menschen zum Tode verurteilt, kann keinem Besucher entgehen. „Drogenschmuggel kann mit dem Tode bestraft werden“, stand am Flughafen auf Englisch auf einem Schild, an dem alle Einreisenden vorbeikommen, als ich zum ersten Mal das Land betrat.

Drogen-Warnung Flughafen

(Hängt es nach der Renovierung des Flughafens noch immer dort? Bitte einen Kommentar hinterlassen, wer es weiß.)

Tatsächlich werden in Taiwan schon lange nur noch Mörder zum Tode verurteilt. Aber dass sich Irrtümer sich nicht ausschließen lassen, zeigte sich gerade wieder.

Fall 1: Wahrscheinlich unschuldiger Todeskandidat

14 Jahre lang hatte Cheng Hsing-tse im Gefängnis gesessen, verurteilt wegen Mordes an einem Polizisten. Mehrfach war er in Revision gegangen, immer wieder wurde das Urteil bestätigt, zuletzt 2006 von Oberstem Gerichtshof. Anfang Mai ist Cheng wieder auf freien Fuß gekommen, denn es sind neue Beweise aufgetaucht, die nahe legen: Er war es gar nicht, der damals geschossen hat. Sogar die Staatsanwälte argumentieren nun so.

Cheng hat großes Glück, dass sein Fall nun noch einmal neu verhandelt wird und er Chancen auf einen Freispruch hat. Denn er saß jahrelang im Todestrakt. Jederzeit hätte er hingerichtet werden können.

Auch andere Todeskandidaten in Taiwan stellten sich nach langer Zeit als unschuldig heraus. Das sogenannte „Hsichih-Trio“ etwa kam erst nach über 20 Jahren frei.

Kein Glück hatte Chiang Kuo-ching, der 1997 für eine Tat hingerichtet wurde, die er nicht begangen hatte. Da musste der Präsident den Hinterbliebenen im Nachhinein Abbitte leisten – es wird ein schwacher Trost gewesen sein.

Fall 2: Geistesgestörter Kindermörder

Tseng Wen-chin wird lebenslang im Gefängnis eingesperrt und wird nicht hingerichtet. Das entschied der Oberste Gerichtshof ebenfalls Anfang Mai und stieß damit bei vielen auf Unverständnis. Denn nachdem Tseng 2012 in Tainan einem offenbar wahllos herausgegriffenen Zehnjährigen die Kehle durchgeschnitten hatte, soll er genau das prophezeit haben: „In Taiwan wird man nicht hingerichtet, nur weil man einen oder zwei Leute umbringt.“

Tseng sei zum Tatzeitpunkt geistesgestört gewesen, begründeten die Richter ihre Entscheidung, das Haft-Urteil aufrecht zu erhalten. Nach den internationalen Menschenrechtskonventionen, denen sich auch Taiwan verschrieben hat, sei die Todesstrafe also unzulässig.

Tatsächlich fordert die UN-Menschenrechtskommission alle Staaten auf:

Not to impose the death penalty on a person suffering from any mental or intellectual disabilities or to execute any such person

Nun ist Taiwan bekanntlich kein UN-Mitglied. Doch Präsident Ma hatte sich 2009 freiwillig entschlossen, die Menschenrechtsabkommen zu unterzeichnen, zu ratifizieren und damit für Taiwan verbindlich zu machen.

Dazu lesen: Mein Bericht für die Deutsche Welle

Taipei Prison: Gefängnis

Im gegenwärtigen Klima schimpfen trotzdem einige auf die „fremden“ Rechtsstandards, denen Taiwan sich nicht unterwerfen solle. Auch einige Richter sehen das offenbar so. Der explizite Verweis des Obersten Gerichts auf die UN-Abkommen im Fall Tseng dürfte da nicht hilfreich sein.

Nach dieser Entscheidung fanden Todesstrafen-Gegner sich jedenfalls, wie so häufig, in der Defensive.

Fall 3: Kurzerhand hingerichteter Massenmörder

Cheng Chieh war eine Hassfigur. Zu Recht. Der damals 21-Jährige hatte im Mai 2014 in der U-Bahn von Taipeh wahllos vier Menschen erstochen und mehr als 20 verletzt. Es war eine Tat, die Taiwan schockierte – derartige Amokläufe sind hier sehr selten.

Für jeden der vier Morde erhielt Cheng die Todesstrafe. Keine drei Wochen, nachdem das Oberste Gericht sie bestätigt hatte, wurde Cheng am 10. Mai hingerichtet.

Rein rechtlich haben Regierung und Justiz dabei korrekt gehandelt. Chengs Anwälte waren zum Zeitpunkt der Hinrichtung noch nicht offiziell gegen das Urteil vorgegangen. Sie wurden quasi von der raschen Entscheidung überrumpelt.

Jetzt lesen: Warum die meisten Hinrichtungen in Taiwan unrechtmäßig waren (engl.)

Dabei ist es sehr ungewöhnlich, wie schnell die Regierung in diesem Fall den Vollzug anordnete.

  • Normalerweise wird die Todesstrafe erst nach Jahren vollzogen
  • In den vergangenen Jahren waren immer mehrere Todeskandidaten am selben Tag hingerichtet worden – diesmal nur Cheng
  • Die Hinrichtung fand wenige Tage vor dem Rücktritt des abgewählten Regierungskabinetts statt, gleichsam in letzter Minute

Ging es um Gerechtigkeitsempfinden? Darum, den sozialen Frieden und das Sicherheitsgefühl nicht zu gefährden, wie die Justizministerin sagte? Oder war es eine Aktion, um der neuen Regierungspartei DPP einen Kurswechsel noch schwieriger zu machen?

Dem Menschen Cheng Chieh wird kaum jemand eine Träne nachweinen. Selbst sein Vater hatte sich kurz nach der Tat öffentlich von ihm losgesagt.

Aber darum geht es ja nicht. Bei der Todesstrafe steht immer die Gefahr im Raum, dass ein Staat menschliche Leben (und den Tod) instrumentalisieren könnte.

Interessantes Interview zum Anhören

Sehr interessante Informationen und Argumente liefert der Anwalt Bob Kao (der auch das Taiwan Law Blog schreibt) in einer Radiosendung für den englischen Sender ICRT, die sich hier nachhören lässt. Sein Part beginnt nach 22 Minuten.

Er betont u.a., dass die Meinungsumfragen pro oder contra Todesstrafe nicht wirklich aussagekräftig und dringend verbesserungsbedürftig sind.

Mehrheit will Todesstrafe nicht abschaffen

Ein sehr emotionales Thema ist die Todesstrafe hier in Taiwan. Eine Partei, die für ihre Abschaffung eintritt, würde derzeit keine Mehrheit bekommen. Besonders nach jedem Aufsehen erregenden Mordfall steigt die Zustimmung für Hinrichtungen.

Und vor kurzem ereignete sich in Taipeh ein ganz besonders abscheuliches Verbrechen: Ein Mann tötete am helllichten Tag auf offener Straße eine Vierjährige vor den Augen ihrer Mutter. Details erspare ich Ihnen.

Diese Mutter meldete sich nach der Hinrichtung des MRT-Mörders mit einer bemerkenswerten Aussage zu Wort:

Although random violence cannot truly be completely understood, what we can and must do is use these incidents to understand how they happened, and reach out to lower their frequency.

Cheng Chieh was executed very quickly. That means that just like that, we lost a subject we could study and understand. He’s dead. Now what? Do we continue to let this kind of thing happen? Do we continue rapidly executing people?

Regelmäßig Hinrichtungen seit 2010

„Wer andere tötet, hat sein Leben verwirkt“, so ungefähr lautet ein oft zitiertes chinesisches Sprichwort übersetzt. Vier bis sechs verurteilte Mörder wurden in Taiwan zwischen 2010 und 2015 jedes Jahr exekutiert, per Schuss ins Herz aus nächster Nähe.

Das reicht einigen nicht. Sie fordern, die Todeszellen freizumachen und Urteile möglichst sofort zu vollstrecken. Ihre Argumente: Abschreckung, die Angehörigen der Opfer, Geld sparen.

Ein Richter wehrte sich kürzlich gegen die Vorwürfe, seine Kollegen seien zu zurückhaltend mit Todesurteilen.

Most judges probably think that because it is necessary, it is right for them to kill people, and because there is nothing they can do about it, they do not talk about it.

Todesstrafe war lange missbraucht worden

Solche Blutlust kann ich nicht nachvollziehen, gerade vor dem Hintergrund von Taiwans Geschichte. Bis Ende der achtziger Jahre galt hier das Kriegsrecht. Das Regime nutzte die Todesstrafe, um die Bevölkerung einzuschüchtern und Exempel an Andersdenkenden zu statuieren. Dennoch hält man daran fest.

Wird die Todesstrafe abschreckend? Die Statistiken sprechen eine andere Sprache:

Diagramm: Morde und Hinrichtungen Taiwan

Taiwan in schlechter Gesellschaft

„Japan und die USA richten doch auch hin“, heißt es gerne zur Rechtfertigung. Tatsächlich befindet sich Taiwan, abgesehen von diesen beiden Demokratien, in schlechter Gesellschaft.

Hinrichtungen Weltweit (Quelle: The Economist)

Weniger als 30 Länder exekutieren überhaupt noch Gefangene. An der Spitze stehen Iran, Saudi-Arabien, und vor allem China. Es gibt keine offiziellen Zahlen, doch geschätzt wird, dass dieser von Deutschland so umworbene Handelspartner jedes Jahr tausende (!) Menschen von Staats wegen tötet.

Und wir in Europa? Für die Bundesrepublik wurde die Todesstrafe mit dem Grundgesetz 1949 abgeschafft. Großbritannien hat bis 1964 hingerichtet, Frankreich bis 1977 und die DDR bis 1981.

Der Staat muss besser sein als die Verbrecher

Meine ganz persönliche Meinung: Erstens muss der Staat zeigen, dass er besser ist als die Verbrecher. Zweitens entwertet das Risiko einer einzigen, nie wieder gutzumachenden, irrtümlichen Hinrichtung alle Argumente pro Todesstrafe.

Oder, wie schon Gandalf zu Frodo sagte:

Viele, die leben, verdienen den Tod. Und manche, die sterben, verdienen das Leben. Kannst du es ihnen geben? Dann sei auch nicht so rasch mit einem Todesurteil bei der Hand.

(Dabei ging es um Gollum. Und wer den „Herrn der Ringe“ bis zum Ende gelesen hat, weiß, dass es eine weise Entscheidung war, ihn nicht vorzeitig umzubringen.)

Auch in Taiwan wurden schon Unschuldige hingerichtet. Teilweise waren ihre Geständnisse damals unter Folter erpresst worden. Wer kann ihren Angehörigen in die Augen sehen und guten Gewissens die Todesstrafe verteidigen?

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich auch hier irgendwann klare Köpfe durchsetzen und mutig einen Schlussstrich ziehen.

Ein erneutes Moratorium, so wie zwischen 2006 und 2009, wäre ein sinnvoller Schritt – zumindest so lange, bis die Gesetze zur Todesstrafe in Sachen Einspruch oder Revision so angepasst sind, dass sie nicht mehr den Menschenrechtskonventionen widersprechen (dazu noch einmal der Hinweis auf meinen englischen Bericht). Dann kann man immer noch über eine Abschaffung reden.

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Klaus Bardenhagen

Klaus Bardenhagen

Comments

6 Antworten

  1. Danke für diesen sehr informativen Bericht. Ich bin auf ihn bei einer einfachen Google Suche zum Thema Todesstrafe in Taiwan gestoßen. Die Neugier war da, nachdem ich kürzlich die taiwanesische Serie The World Between Us gesehen habe. Beim Lesen der hier beschriebenen Dinge musste ich daran denken, dass die Serie von diesen Fällen inspiriert wurde. Auch mit ähnlichem Wortlaut wie der der Mutter. Die Serie hatte 2019 einige Preise in Taiwan gewonnen. Vielleicht hat sie ja einige in der Bevölkerung zu einer neuen Denkweise bezüglich der Todesstrafe bewegt.
    Ich selbst war überrascht, dass Taiwan noch die Todesstrafe besitzt, da ich es immer als sehr fortschrittlich angesehen habe.

  2. I have written several times about the death penalty in Taiwan:

    Abolishing executions safeguards our rights (9 April 2010)
    http://www.taipeitimes.com/News/editorials/archives/2010/04/09/2003470119

    Justice done by execution? (9 March 2011)
    http://www.taipeitimes.com/News/editorials/archives/2011/03/09/2003497720

    Real deal behind abolition (17 March 2011)
    http://www.taipeitimes.com/News/editorials/archives/2011/03/17/2003498367

    Executions not the answer (25 May 2014)
    http://www.taipeitimes.com/News/editorials/archives/2014/05/25/2003591162

  3. Man stellt sich auf die gleiche Stufe, wenn man jemanden hinrichtet. Niemand hat das Recht zu töten!
    Aber wer kann es den Taiwanesen verdenken, dass sie für die Todesstrafe sind, wenn der „große Bruder“ USA seit 2007 über 600(!) Menschen hingerichtet hat (viele davon unschuldig!)?
    Es wäre ein große Geste der neuen Regierung hier zu zeigen dass man „über den Dingen“ steht und die Todesstrafe abschafft bzw. bei Verhängung diese nicht ausübt. Hier kann man ein Zeichen setzten gegenüber China.
    Ich war zum Zeitpunkt des Hinrichtung von Cheng Chieh (10.05.)in Taipei und erschrocken, mit welcher Intensität diese Hinrichtung im Fernsehen verteidigt und kommentiert wurde.

  4. „Es darf niemals Recht sein, eines anderen Leben zu nehmen, egal aus welchem Grund. Das gilt für den Staat genauso wie für Einzelpersonen.“

    Interessante Meinung. Wie sieht das bei Notwehr, Notstand und Nothilfe aus? Wie bei Abtreibungen von lebensfähigen Föten? Weniger Schwarz-weiß-Stammtischparolen würden der Debatte helfen.

    1. Es gibt immer „Ausnahmen von der Regel“, wenn z. B. (Entschuldigung für diese flapsige Formulierung) wenn durch ein „kleineres Übel ein Größeres“ verhindert werden kann.
      Diese Frage hat ja in D. eine große Diskussion ausgelöst, inwieweit man ein Passagierflugzeug abschießen darf, welches für einen Terrorakt missbraucht wird.

  5. Die Todesstrafe gehört abgeschafft. Punkt.
    Das andere daran festhalten, macht das eigene Vorgehen ja nicht besser. Ganz im Gegenteil, wenn man sich mal anschaut, in was für einer Gesellschaft Taiwan sich da befindet.
    Ich behaupte sogar, dass für einige Mörder die Todesstrafe eher das Gegenteil bewirkt, nach dem Motto „lieber direkt hingerichtet werden als mein Leben lang im Gefängnis zu verrotten“.
    Es darf niemals Recht sein, eines anderen Leben zu nehmen, egal aus welchem Grund. Das gilt für den Staat genauso wie für Einzelpersonen.

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