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An Tagen wie diesem wird Taiwans Zukunft verhandelt

Jpeg

Bei 228 geht es nicht nur um Gedenken und Geschichte

„Die Art und Weise, wie mit diesem Gedenktag jedes Jahr aufs neue umgegangen wird, wird auf absehbare Zeit immer auch ein Anzeichen dafür bleiben, wie es um den innertaiwanischen Konsens über die eigene nationale Identität bestellt ist.“

So hatte ich 2009 hier im Blog einen Kollegen zitiert.  Kluge Worte. 228, das ist der 28. Februar, ein Gedenktag an den blutig niedergeschlagenen Volksaufstand von 1947, – aber eigentlich auch an die daran anschließende Kriegsrechts-Ära, die erst Anfang der neunziger Jahre von Taiwans heutiger Demokratie abgelöst wurde.

Seit 1995 spricht jedes Jahr an diesem Tag der Präsident bei einer Gedenkzeremonie, seit 1997 ist es ein nationaler Feiertag. Und, wie gesagt: Jedes Jahr lässt sich an den Diskussionen, Demonstrationen und Reaktionen ablesen, wie es um Taiwans Selbstverständnis gerade bestellt ist.

Demonstration vor der Chiang-Kai-shek-Gedenkhalle in Taipeh
Unabhängigkeitsbefürworter demonstrieren vor der Chiang-Kai-shek-Halle

Dieses Jahr kamen zwei Faktoren dazu, die den Tag besonders aufgeladen haben: Es war der 70. Jahrestag. Zu runden Jubiläen fühlen sich auch internationale Medien besonders motiviert, mal wieder einen Blick auf ansonsten Vernachlässigtes zu werfen.

So konnte ich dieses Jahr gleich drei Berichte nach Deutschland absetzen:

Große Pläne: Was ist Transitional Justice?

Außerdem war es das erste Mal seit dem krachenden Machtverlust der KMT, dass Präsidentin Tsai Ing-wen diesen Tag beging. Nun hat sie sich als ein großes Thema ihrer Präsidentschaft (vielleicht das größte neben „industrieller Transformation“, und bislang viel klarer definiert) die Transitional Justice gewählt.

Schwierig zu übersetzen, dieser Begriff. Es geht um die Übergangsphase von Autokratie zu Demokratie, das Aufarbeiten der Geschichte, mit dem Ziel der Aussöhnung. (Ausführliche Gedanken dazu auf Deutsch hat sich der China- und Taiwankenner mit dem Pseudonym „Just Recently“ gemacht, sehr lesenswert.)

Bilder von Opfern im Nationalen 228-Museum in Taipeh
Bilder von Opfern im Nationalen 228-Museum in Taipeh

228 ist natürlich ein Tag, an dem all diese historisch-politisch-gesellschaftlichen Debatten sich bündeln, und entsprechend ereignisreich ging es auch zu.

Tsai hat ihre Rede am 28. Februar (chinesischer Volltext, englische Zusammenfassung) sowie Auftritte an den Vortagen dazu genutzt, ihre Agenda der Transitional Justice zu präzisieren.

Viele neue Gesetze geplant

So ungefähr sieht der Fahrplan aus, der zum größten Teil noch das Gesetzgebungsverfahren durchlaufen muss:

  • Bereits beschlossen und in Kraft: Das Gesetz über unrechtmäßig erworbenes Parteivermögen (Act Governing the Handling of Ill-gotten Properties by Political Parties and Their Affiliate Organizations, 政黨及其附隨組織不當取得財產處理條例). Parteien müssen die Herkunft ihres Vermögens seit 1945 nachweisen. Sofern es nicht auf Spenden, Mitgliedsbeiträgen oder staatlichen Zuwendungen beruht, kann es eingezogen (also verstaatlicht) werden.
    Gilt theoretisch für alle Parteien, betrifft aber natürlich vor allem die KMT, die nach 1945 viel japanisches Vermögen in den Partei- statt den Staatsbesitz übernommen hatte, was damals ja eh fast das gleiche war. Es gibt eine Untersuchungskommission mit weitreichenden Rechten, die der KMT schon Konten gesperrt hat und dabei ist, alle möglichen damals gegründeten halbstaatlichen Organisationen zu durchleuchten.
    Die KMT beklagt „Grünen Terror“ (als DPP-Entsprechung zu ihrer eigenen Zeit des „Weißen Terrors“) und legt Rechtsmittel ein, vermutlich entscheiden am Ende Gerichte über den Erfolg dieser Initiative.
Ausstellung in der Chiang-Kai-shek-Gedenkhalle
Ausstellung in der Chiang-Kai-shek-Gedenkhalle
  • Gerade bekannt gegeben: Am 28. Februar wird die Chiang-Kai-shek-Gedenkhalle künftig geschlossen bleiben. Offiziell aus Respekt vor den Opfern, sicher aber auch um keine Demonstrationen anzuziehen.
  • Angekündigt: Das zuständige Kulturministerium will die CKS-Gedenkhalle grundlegend überdenken, von der Statue über den Namen bis zur Ausstellung kann alles auf den Prüfstand. Es wird Expertenkommissionen dazu geben und eine Gesetzesänderung (Organization Act of National Chiang Kai-shek Memorial Management Office, 國立中正紀念堂管理處組織法), die noch durchs Parlament muss.
    Den Verkauf von Chiang-Souvenirs und das Abspielen eines Huldigungs-Liedes hat man schon beendet.
Souvenirs von Chiang Ching-kuo und seinem Vater Chiang Kai-shek
Bald Sammlerstücke?
  • Beschlossen: Regierungsbehörden sollen bis Mitte des Jahres alle Akten mit 228-Bezug beim Nationalarchiv zusammenführen. Dort werden sie digitalisiert, ausgewertet und für Forschung (und auch Öffentlichkeit?) freigegeben.
  • Angekündigt: Ein Gesetz zur Öffnung von Archiven, das auch Nicht-Regierungsstellen (also vor allem die KMT) verpflichtet, politische Akten aus dem Zeitraum 1945-1992 dem Nationalarchiv auszuhändigen.
  • Bereits im Parlament: Der Gesetzentwurf für eine Transitional Justice Bill, eingebracht von der DPP-Fraktion im Frühjahr, noch bevor Tsai ihr Amt angetreten hatte. Ein Herzstück der Pläne und dementsprechend besonders umstritten.
    Soll sowohl den gesetzlichen Rahmen für weitere Regelungen schaffen als auch eine besondere Untersuchungskommission einsetzen. Diese soll innerhalb von drei Jahren unter Zugriff auf die freigegebenen Akten (s.o.) einen offiziellen Bericht zur Kriegsrechts-Ära abfassen.
    Nicht ganz klar ist mir gerade, ob dieses Gremium identisch ist mit der „Wahrheits- und Versöhnungkommission“, die Tsai in ihrer Amtsantrittsrede angekündigt hatte und die, im Präsidialamt verankert, Menschenrechtsverletzungen aus dieser Zeit untersuchen soll.

Taiwan blickt auf Deutschlands Vergangenheitsbewältigung

Dann gibt es da noch die Rolle der deutschen Erfahrungen bei der Transitional Justice. Tsai und andere Offizielle betonen seit längerem immer wieder, Deutschlands Erfahrungen mit der Aufarbeitung von Nazi- und DDR-Diktatur könnten als Vorbild dienen.

In Sachen NS-Zeit ist es wohl weniger die konsequente Verfolgung und Bestrafung der noch lebenden Täter, an der Taiwan sich orientieren will. Tsai verspricht ja Versöhnung, nicht Vergeltung.

Jetzt lesen: Die Geschichte hinter 228

Relevanter für Taiwan ist der Umgang mit dem historischen Erbe der Gewaltherrschaft und des Holocaust, sowie die Entschlossenheit, die Erinnerung daran in der Erziehung wachzuhalten, aus der Vergangenheit zu lernen, demokratisches Bewusstsein zu verankern

Ganz explizit sagte Tsai das gerade erst Mitte Februar bei einer Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag in Taipeh, nachzulesen hier im Blog (Englisch).

Im Hinblick auf die DDR sind es vor allem der Umgang mit dem SED-Parteivermögen und den Stasi-Akten, die hier in Taiwan Relevanz haben.

So war der Leiter der Stasi-Gefängnisgedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, schon mehrfach in Taiwan auf Tagungen, wie auch Bürgerrechtler aus Wendezeiten (Video).

Natürlich haben die Pläne für Transitional Justice auch Gegner, und damit sind wir wieder beim Einstieg in diesen Text: Wie wurde der Tag begangen?

Marsch auf die Gedenkhalle

Am 28. Februar sparte ich mit die offizielle Gedenkveranstaltung mit Präsident Tsai am 228-Mahnmal und machte mich zur Chiang-Kai-shek-Gedenkhalle auf. Eine Gruppe von Unabhängigkeitsaktivisten hatte angekündigt, die Statue schänden zu wollen.

Da sie diese Pläne Tage im voraus verbreiteten, war es ihnen wohl selbst nicht ganz ernst damit. Natürlich war die Halle mit der Statue fest verschlossen (s.o.), die Polizei mit Hundertschaften angetreten, und KMT-Anhänger und andere Gruppen vom anderen Ende des politischen Spektrums waren ebenfalls vor Ort, um die Halle zu verteidigen.

Jetzt lesen: Chiang Kai-shek, Nationalheld oder Diktator?

Und die Medien natürlich, und darum ging es wohl allen Beteiligten in erster Linie: Symbolische Bilder fürs Fernsehen zu produzieren.

So gab es viel hysterisches Gebrüll hüben wie drüben, und gelegentlich Geschubse und Gerangel, auf das die Polizei schnell, recht gekonnt und deeskalierend reagierte.

Demonstration gegen Chiang Kai-shek

Flaggenverbrennung für die Kameras

Sobald die Beamten beide Gruppen (die jeweils nur wenige Dutzend Menschen umfassten) effektiv getrennt hatten, agierte die Unabhängigkeitsfraktion um Tsay Ting-kuei, Gründer der „Free Taiwan Party“, ganz so, wie man es von ihr erwartet: Sie entrollten ein Transparent, das Chiang als Mörder anprangerte, und als bildstarken Höhepunkt verbrannte Tsay eine ROC-Nationalflagge.

Die Gegenseite konnte diesen Akt, den ich persönlich ziemlich sinnfrei wenn auch nicht verbotswürdig finde, nicht verhindern, rief aber immerhin die Feuerwehr und stiftete damit noch zusätzliche Verwirrung.

Jetzt lesen: Wie die Chiang-Kai-shek-Halle schon einmal umbenannt wurde

Interessant war es, den Argumenten der Vertreter auf der tiefblauen Gegenseite zu lauschen. Die finden sich ja nun in der noch etwas ungewohnten Oppositionsrolle wieder. Und sie scheinen auch zu spüren, dass der gesellschaftliche Mainstream ihnen entgleitet.

Pro-ROC-Demonstranten in Taipeh

Sie scharten sich um den großen Flaggenmast in der Mitte des riesigen Platzes. Ob die Demonstranten nun KMT-Organisationen entstammten, der vom Gangster Chan An-le gegründeten „China Unification Promotion Party“ oder der „Concentric Patriotism Alliance“, bekannt vor allem für ihre Aktionen vor dem Taipei 101 und ihren Lautsprecherwagen, war unklar.

„Was soll denn noch passieren?“

Es sprach gerade ein älterer Redner, den ich eher im Huang Fuxing-Flügel der KMT verorten würde, durch den die ultranationalistischen Militärveteranen großen Einfluss auf die Partei ausüben (sie sind erklärte Unterstützer der amtierenden Vorsitzenden Hung Hsiu-chu bei den nächsten Vorstandswahlen).

Er sprach ins Mikro sinngemäß: Natürlich sei 228 eine große historische Tragödie gewesen. Aber die Regierung habe sich doch nun schon so oft entschuldigt (stimmt, jedes Jahr seit 1995) und auch Entschädigungen gezahlt (stimmt auch), nun sei es auch mal gut. Was solle man denn noch machen? (Genau hier fällt der Gegenseite noch einiges ein, wie ich oben ja aufgelistet habe.)

1995: Präsident Lee Teng-hui bittet um Verzeihung für 228
1995: Präsident Lee Teng-hui bittet um Verzeihung für 228

Ich sprach dann noch mit zwei Demonstranten, die in einem Grüppchen standen, das den Pro-Taiwan-Vertretern besonders lautstark kontra gab.

Zunächst wollen sie nicht so recht in eine Kamera sprechen (diese Skepsis Journalisten gegenüber hatte ich bisher nur bei Gegnern der gleichgeschlechtlichen Ehe erlebt, auch auf KMT-Veranstaltungen noch nie), aber dann fassten sie sich ein Herz.

Was die beiden sagen, steht in der Videobeschreibung bei Youtube.

Kurz zusammengefasst meint der Mann:

  • Die Republik China ist doch längst unabhängig, wieso rufen sie noch nach Unabhängigkeit?
  • Die Regierung nutzt Transitional Justice nur als Vorwand, um Dinge herauszuholen, die für sie gut sind.
  • Falls es ihnen wirklich um Transitional Justice ginge, würden sie sich auch um die Ureinwohner kümmern. (Gerade fand in der Nähe in der Tat eine Demo von taiwanischen Aborigines statt. Bei den ersten Beratungen des Parlaments zur Transitional Justice Bill war das Schicksal der Ureinwohner bewusst ausgeklammert worden, weil man sich auf den Weißen Terror konzentrieren wollte. Das war umstritten. Den Ureinwohnern wurde ein entsprechendes, speziell auf sie zugeschnittenes Gesetz in Aussicht gestellt.)
  • Was die DPP-Regierung da treibt, ist ungerecht und nicht gut für Gesellschaft oder Land. (Oft gehörtes Argument: Wie die DPP ihre Mehrheit nun ausnutze, sei auch nicht besser als das, was die KMT damals getan habe. Und es gehe im Endeffekt darum, historische Wunden nicht heilen zu lassen, sondern die Gesellschaft immer wieder in Gruppen aufzuspalten und den Konflikt zu schüren.)

Die Aussagen der Frau:

  • Die Unabhängigkeitsbefürworter seien allesamt Abkömmlinge von Japanern. Keine Chinesen.
  • Tsai Ing-wen auch. Sie sei keine Chinesin und auch keine Taiwanerin.
  • Diese Leute wollten Taiwan an Japan verkaufen, wieder zu einer japanischen Kolonie machen.

Hüben wie drüben

Ich nehme daraus mit: Auf beiden Seiten des Spektrums, Grün wie Blau, finden sich verschiedene Meinungen wieder: Von gemäßigt über nachvollziehbar und zumindest diskussionswürdig bis hin zu jenseits von Gut und Böse.

Um auf die Frage ganz vom Anfang zurückzukommen: Einen wirklichen Konsens über die taiwanische Identität gibt es in so weit, dass fast alle Bürger das Bewusstsein teilen, in einem freien und souveränen Land zu leben, das seine Geschicke als Gesellschaft selbst bestimmt und in dem sie das Recht haben, ihre Meinung zu äußern und auch einzufordern.

Welches Land das genau ist, welchen Weg es gehen soll und welche Veränderungen noch nötig sind, darüber herrscht sicherlich kein Konsens.

Aber das ist vielleicht auch normal in einer Demokratie, und irgendwann entscheiden Mehrheiten. Die Gesellschaft wandelt sich, zum Beispiel durch Generationswechsel. Sie ist im Inneren genauso wenig statisch wie Taiwans Status Quo im Verhältnis zu China nach außen. Bewegte Zeiten.

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Klaus Bardenhagen

Klaus Bardenhagen

Comments

2 Antworten

  1. Es scheint, als ob die Tage der KMT wirklich endlich vorbei sind, und ihre Lage sieht verblüffend wie die der Labour Party in Schottland aus, wo man ja auch Unabhängigkeit anstrebt. Vielleicht sieht das Sterben aller politischen Parteien in demokratischen Staaten so aus.

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